Es gibt Webseiten, die sind so schlecht, dass man sie am liebsten
durch den Shredder lassen oder auf den Misthaufen werfen möchte. Dank
Mark Napier kann man genau das tun - es funktioniert auch mit guten
Webseiten - und dabei erst noch Kunst produzieren. Zumindest findet
das Napier, ein New Yorker Netz-Künstler, der den Shredder und den
Misthaufen programmiert hat.
Der «Shredder»1 erscheint auf dem Bildschirm in Gestalt eines
Browsers, er parodiert offensichtlich den Netscape Navigator und den
Microsoft Explorer. Wenn man ihm eine Web-Adresse eingibt, lädt er die
Seite auch, aber gleichzeitig zerhackt er sie so, dass nur noch Fetzen
und Fragmente davon zu erkennen sind. Das ist, zugegeben, reizvoll,
will aber mehr sein. «Der Browser», erläutert Napier sein Werk,
«interpretiert HTML-Instruktionen, er ist ein Wahrnehmungsorgan, mit
dem wir das Web sehen. Er filtert und organisiert eine gewaltige
Masse von strukturierter Information. Der Shredder präsentiert diese
globale Struktur als chaotische, irrationale Collage. Der Shredder
verändert den HTML- Code, bevor er ihn liest, und verwandelt so die
Daten. Inhalt wird Abstraktion. Text wird Graphik. Information wird
Kunst.»
Der «Shredder» produziert Netz-Kunst pur, aber inspiriert wurde Napier
von einem Offline- Vorbild. Er bewundere die organische Qualität, die
Jackson Pollock seinem Material verliehen habe, erklärte Napier der
«New York Times», und was sein Shredder mit den Bildern und Texten
mache, wirke auf ihn auch wie etwas Organisches. Visuell weniger
überzeugend, aber diesem Ideal noch näher ist Napiers Misthaufen, der
englisch etwas vornehmer «Digital Landfill»2 heisst. Dort kann man
Webseiten wegwerfen und zusehen, wie sich der Abfall wirr überlagert
und schliesslich zersetzt.
Zusammen mit seinem Netz-Künstlerkollegen Andy Deck hat Napier eine
neue Arbeit entwickelt, die kürzlich vom lesenswerten deutschen
Online-Magazin «Telepolis»3 vorgestellt wurde. «Graphic Jam»4 ist ein
Zeichen- und Malprogramm, mit dem mehrere User gleichzeitig zeichnen
und malen können - ohne sich zu kennen und ohne sich einander
mitteilen zu können ausser mit dem, was sie auf der virtuellen
Leinwand hinterlassen. «Graphic Jam» ist unter anderem eine Attacke
auf die Vorstellung vom Künstler als souveränem Schöpfer in
genialischer Einsamkeit. Im sozialen Aspekt der visuellen Kreativität
sehen die Schöpfer der interaktiven Malmaschine eine ihrer
interessantesten Funktionen: Nur indem jeder am Gemeinschaftswerk
Beteiligte die Zeichen der anderen interpretiert, kann überhaupt das
entstehen, was die Künstler als «Mischung zwischen Graffiti und Jazz»
bezeichnen.
Für solch spielerisch neue Formen der Kunstproduktion ist das Web das
ideale Medium. Zur Vielfalt der Online-Kunst gehören nicht nur Video,
Graphik, Text, Photographie und Ton; in ihr vermischen sich auch
Ästhetik, Technik, Produktion und Distribution auf einzigartige Weise.
Und dafür, dass man das Genre nicht ernst zu nehmen brauchte, gibt es
zu viele herausragende Beispiele für Netz-Kunst. Die wohl
meistgerühmte, «äda' web», leistete von 1995 bis 1998 Pionierarbeit
und wurde nach ihrer Einstellung vom Walker Art Center5 in Minneapolis
aufgekauft. Das im Bereich der digitalen Kunst besonders
fortschrittliche Museum hat die komplette «äda' web»-Site übernommen
und in seiner Online-Galerie zugänglich gemacht.
Das Hauptproblem der Netz-Kunst wird bis auf weiteres bleiben, dass
sie sich in einem Ghetto abspielt. Im Unterschied zu digitaler Kunst,
die ausgedruckt und an die Wand gehängt werden kann, verlässt sie das
Gehäuse des Computers nicht. Stellt man einen Computer mit
Internetzugang in einer Galerie auf - so hört man klagen -, fangen
die Besucher an zu surfen oder ihre E-Mail abzurufen, statt sich durch
das Kunstwerk zu klicken, das sie sich anschauen sollten. - Nächste
Woche gehen wir auf Schnäppchenjagd.